Sonntag, 20. Juni 2010

Die Welt in 100 Jahren – Zukunftsvisionen und Gegenwart vom vernetzten Leben (von Antje Böhme)



"Das vergangene Jahrhundert hat mit Rekorden von Zeitgewinn geprahlt, seine Schicksale durch Ortlosigkeit erfahren. Die Bilder, von denen das 20. Jahrhundert seit seinem Anfang gleicherweise begeistert, hingerissen und schikaniert worden ist, waren Zukunftsvisionen. Die Beschleunigung und technische Perfektionierung der Verkehrsverhältnisse auf dem gesamten Globus haben das Denken und die Empfindungswelt radikal auf die Zukunft hin orientiert." (Topos Raum, 2004, S. 9)
Die technologischen Errungenschaften treiben die globale Vernetzung, von der schon in Zukunftsvisionen der Vergangenheit in verschiedenen Versionen die Rede ist, stetig voran und verändern damit maßgeblich die Zukunft von Politik und Gesellschaft.




Anliegen
Der Blick auf vergangene Visionen von der Zukunft, die jetzt unsere Gegenwart ist, scheint mir ein interessanter Ausgangspunkt für den Blick nach vorn in die Zukunft vom vernetzten Leben, Denken und Arbeiten zu sein.
Vor allem ein Merkmal macht Visionen seit jeher aus: Sie bieten, verstanden als technisierte Zukunftsvorstellungen, weniger Aussagen über spätere Wirklichkeiten an, als dass sie zuvorderst auf die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse über das Verhältnis von Technik und Gesellschaft verweisen. Viele technische Zukunftsvisionen der Vergangenheit sind heute Geschichte. In dem Think Tank „Jean Luc und die Singularität vorm falschen Fenster“, der im Januar 2010 im HAU1 stattfand und sich mit der Frage auseinandersetzte, wie die Zukunft von Leben und Arbeiten mit Hilfe von Vernetzung aktiv mitzugestalten sei, stellte ein Teilnehmer die Frage: „Kriegt jede Zeit die Science Fiction, die sie verdient?“ Wenn man sich auf die Suche nach vergangenen Zukünften begibt, sollte der Fokus auf den zwei Fragen liegen: Welche gesellschaftlichen Utopien wurden an die Technologien der Zukunft geknüpft und welche Visionen bestehen heute, da wir im Besitz der Technologien sind? Denn die Entstehung von Zukunftsvorstellungen basiert meist auf der Projektion von Gegenwartserfahrung und lässt sich auf folgende Formel bringen:
Visonen = Wünsche/Bedürfnisse + Phantasie im Schweben zwischen möglich und unmöglich.

Geschichtliches
Das Wort „Zukunft“ ist eine junge Erfindung: Im Sinne einer von der Gegenwart unterschiedenen „zukünftigen Zeit“ existiert es erst seit dem 18. Jhd. Damit es „Zukunft“ gibt, bedarf es eines Menschen, der an seine Schöpferkraft (Kreativität) glaubt und von einem „Fortschreiten“ aus eigener Kraft überzeugt ist. Das Bewusstsein, dass jeder einzelne Mensch aus sich selbst heraus etwas erschaffen kann, hat seine Wurzeln in der Aufklärung und findet, wenn man so will, heute seine Intensivierung in der D.I.Y. Bewegung. „Do it yourself“ als alternatives Prinzip - produzieren, anstatt konsumieren. Der von Bre auf der re:publica vorgestellte „Makerbot“, der 3D-Drucker, gibt eine Vorahnung von dem, was uns erwartet.
Historisch betrachtet sind es zunächst utopisch aufgeladene Orte, die den Mittelpunkt der Visionen ausmachen. Inseln, Reisen in phantastische Länder und auf Planeten etc. sind z.B. aus Büchern von Jules Verne bekannt. Als ur-utopischer Ort kann wohl das Paradies genannt werden. Mit der Aufklärung richtete sich der Fokus dann vor allem auf die zeitliche Dimension. In die Zukunft projizierte Veränderungen, Zustände und Ereignisse wurden jenseits von religiösen Utopien mit dem technischen Fortschritt, der vieles erst ermöglichte, verknüpft. Ein Beispiel ist der Roman „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells aus dem Jahr 1895.
Im 19. Jhd. wurden technische und soziale Utopie verknüpft, insbesondere unter Eindruck der Industriealisierung. Der technische Fortschritt veränderte in dieser Zeit Leben, Denken, Arbeiten und Wahrnehmung auf massive Weise. Tendenzen und Wirkungen lassen sich auch auf die Veränderungen unserer Zeit übertragen. Zu Zeiten der Industrialisierung herrschte die Vorstellung einer globalen Kommunikation als Traum einer geeinten Erde: Dampfschiffe, Eisenbahn, Telegraphen verbinden Länder und Völker und damit verschwimmen die Landesgrenzen.
Eine aktuelle Frage aus dem Think Tank im Januar 2010 lautete: „In wieweit machen Landesgrenzen noch Sinn, wenn ich überall auf der Welt im Internet Mitglied einer Nationalgemeinschaft sein kann?“

Zukunftsvisionen aus dem Jahr 1910
Schon im Jahre 1910 bildete sich das Bewusstsein, das Bedürfnis und die Vision eines vernetzten Lebens heraus.
Das Buch „Die Welt in 100 Jahren“ von Arthur Brehmer aus dem Jahr 1910, das 2010 als Wiederauflage erscheint, bildet eine interessante Grundlage. Alle Aufsätze der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaftler verbindet der Gedanke des technischen Fortschritts und seine Auswirkung auf Gesellschaft und Politik. Fortschritt wird hier im Sinne von: es geht vorwärts, aufwärts mit der Menschheit, alles wird besser, schöner, leichter, länger, gedacht.
Stichwörter zu Visionen von 1910 sind: ein zunehmender Geist internationaler Verbrüderung, nachhaltige Energien wie Wasser- und Sonnenkraft, die Vereinigung Europas zu einem Land, das Ende vieler Verbrechen durch eine umfassende Überwachung.
Herausgreifen möchte ich allerdings den Aufsatz von Robert Stoss, der 1910 schon über das drahtlose Jahrhundert und seine Konsequenzen schreibt.

Robert Stoss: „Das drahtlose Jahrhundert“
Stoss ersinnt das „Telefon in der Westentasche“ und geht auf die damit verbundenen Veränderungen für das Leben ein. Im Folgenden möchte ich einige bemerkenswerte Textstellen verdichten. Stoss leitet seine Betrachtungen mit einer Kurzgeschichte ein, in der ein Schiff mit Mannschaft im Arktischen Ozean, weit von Zivilisation entfernt, treibt. An einer Stelle sagt der Kapitän zu seiner Crew:




„Ich habe eine Idee: Wie wär´s wenn wir mal alle unsere Batterien in Gang brächten und den Versuch machten, uns mit Umgehung der drahtlosen Station mit der Welt telefonisch in Verbindung zu setzen. Das wäre mal wieder was, wovon die Welt sprechen könnte.“

Stoss schlussfolgert:




„Sobald die Erwartungen der Sachverständigen auf drahtlosem Gebiet erfüllt sein werden, wird jedermann sein eigenes Taschentelefon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können, einerlei wo er auch ist. […] Wenn dieser Apparat so vervollkommnet sein wird, dass auch der gewöhnliche Sterbliche sich seiner wird bedienen können, dann werden dessen Lebensgewohnheiten dadurch noch weit mehr beeinflusst werden, als sie dies schon jetzt durch die Einführung des gewöhnlichen Telefons sind.“

Diese Gedanken können ohne weiteres als Folie über die aktuellen Diskussionen gelegt werden.
Stoss sieht mit seiner Vision der „gesprochenen Zeitung“ im Grunde bereits iPhone und Podcast voraus:




„Auf seinem Wege von und ins Geschäft wird er seine Augen nicht mehr durch Zeitunglesen anzustrengen brauchen, denn er wird sich in der Untergrundbahn oder wo er grad fährt oder geht nur mit der „gesprochenen Zeitung“ in Verbindung zu setzen brauchen und er wird alle Tagesneuigkeiten, alle politischen Ereignisse nach denen er verlangt, finden. […] Die Bildertransmission wird in Zukunft so vervollkommnet sein, dass sie kein Spielzeug mehr ist, sondern zweifellos berufen ist, in der Ausgestaltung unserer zukünftigen Lebensverhältnisse eine sehr große Rolle zu spielen.“

„Mobilität“ ist bei der drahtlosen Übermittlung von Bildern ein Schlüsselwort. Interessant ist auch die Abstufung vom bloßen Spielzeug hin zu einer „Qualität“ bzw. Relevanz des Geräts – vor allem auf dem Hintergrund unserer Gegenwart:




„Nirgends wo man auch ist, ist man allein. Überall ist man in Verbindung mit allem und jedem. Jeder kann jeden sehen, den er will und sich mit jedem unterhalten, wo er auch ist.“

Stoss schließt seinen Aufsatz mit den Worten:




„Die ganze Erde wird nur ein einziger Ort sein, in dem wir wohnen.“

Der letzte Satz ist mehr als eine bloße Feststellung. Die enge Verknüpfung von Vision und sozialer Utopie schwingt implizit mit.
Was bedeutet dieses Bewusstsein heute?

Fragen für den (Hinter)kopf
Das Internet ist die Antwort, aber was ist die Frage?
Vorschläge:
Wo kommen wir her und wo gehen wir hin?
Was war, was dachten wir, was sein wird und was ist?
Wie können wir die Zukunft vom vernetzten Leben, Arbeiten und Denken aktiv mitgestalten?
Was ist unsere Vision/sind unsere Visionen?
Welche Freiräume/Utopien gibt es? Welche Inhalte wollen wir generieren? Wie können wir diese vernetzen?
Welche Wertigkeit legen wir an das Netz an?

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