Freitag, 9. Dezember 2011

Avantgarde-Reihe #1


Die Reihe Alternativlos? Was wir von der Avantgarde lernen können stellt Avantgardist*innen unterschiedlichster Bereiche, ihre Ideen und Praxen vor.

Der Held ist die Epoche (von Antje Paul)
Das Theater Erwin Piscators und die Weimarer Republik

Erwin Piscators Theater der Zwanziger Jahre richtet sich gegen die autonome Ästhetik des reinen Kunstschönen und wirkt auf einen tiefgreifenden Funktionswandel der Kunst zum Politischen hin. Nicht die ästhetische Wertung der Welt, sondern der Wille, sie zu verändern, steht im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit. Das Ziel seiner vielfältigen Inszenierungen, gesellschaftsbildend zu wirken, bedingt eine Revolutionierung der alten Theaterform und ihrer Inhalte.

Realität nicht Realismus

„Meine Zeitrechnung beginnt am 4. August 1914.“ Mit diesem Satz beginnt der Regisseur Erwin Piscator (1893-1966) aus der Perspektive des Jahres 1929 seine kritische Rückschau „Das Politische Theater“. Über zehn Jahre intensiver Theaterarbeit liegen hinter ihm, als er die Triebkraft seines Wirkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs knüpft, der ihn einst gewaltsam aus seinem bürgerlichen Dasein riss.
Piscators Fokus auf ein „Politisches Theater“ als Sprachrohr, Ausdruck und Gestalter ist im Kontext des politischen Zeitgeschehens der Weimarer Republik und insbesondere der proletarischen Revolutionsbestrebungen als Folge des Ersten Weltkriegs zu sehen. Die Krisenjahre 1918-23 erscheinen als unmittelbare Kriegsfolge und stehen unter dem Eindruck des Versailler Vertrags, der u. a. die Inflation, politische Umstürze, Konterrevolution und Morde in dieser instabilen Phase der jungen Republik mit bedingt. Unter der Führung der KPD nimmt das revolutionäre Proletariat den Klassenkampf auf. Piscator schließt sich gezeichnet durch seine Fronterfahrung und geprägt von den politischen Kämpfen der Novemberrevolution 1918 den Ideen der proletarisch-revolutionären Bewegung an.
Der Standpunkt Piscators Inszenierungen ist die agitatorisch-lehrhafte Parteinahme und Aktivierung mit den Mitteln des Theaters für diesen Kampf. In der Darstellung der Barrikade von Bourgeoisie und Proletariat sowie der antagonistischen Widersprüchlichkeit beider Pole versucht er die Diskrepanz zu einem „Element der Anklage, des Umsturzes und der Neuordnung“ zu steigern, wie er selbst zusammenfasst. Es geht ihm nicht mehr, wie etwa noch den Expressionisten, Futuristen und Dadaisten, um die reine Zertrümmerung der bürgerlichen Kultur- und Kunstbegriffe, jener „ewigen Werte“, sondern um die Vermittlung von Klarheit und Erkenntnis als „direkte Aktion“ auf dem politischen bzw. proletarisch-revolutionären Theater. Für Piscator ist die Wirklichkeit der Ausgangspunkt der dramatischen Handlung.

Vom Subjekt zum Objekt

Diese Zielrichtung Piscators Theater ist maßgebend für die grundlegenden Prinzipien und Konzepte seiner künstlerischen Arbeit. Die Betonung der Objektivität und die historische Bedeutsamkeit von gesellschaftlichen Erscheinungen sind wichtige Ausgangspunkte. Das Subjekt und die psychologisierende Schilderung des privaten Einzelschicksals verdrängt Piscator zugunsten des Überpersönlichen und der gesellschaftlichen Determinierung aller menschlich-individuellen Schicksale – das Schicksal der Masse. Dabei sind die Faktoren des menschlichen Schicksals die Politik und die Wirtschaft, aus denen wiederum die Gesellschaft und das Soziale resultieren. Der Mensch wird auf der Bühne in seiner gesellschaftlichen Funktion gezeigt und damit in seinem Verhältnis zur Masse. Das Subjekt erscheint darum – insbesondere in den Inszenierungen von 1924-29 – nur als Träger von allgemeinen Klassenmerkmalen, die es im Kontext der Gesellschaft soziologisch typisieren. Programmatisch hält Piscator 1929 fest, dass der Held nicht das Individuum sei, sondern allein die Epoche. Das Objektive, die Masse und die sachlichen Vorgänge werden von Piscator als Ausdruck der absoluten Determinierung des Subjekts in den Mittelpunkt gestellt. Auf diesem gedanklichen Fundament gründet der Regisseur eine Dramaturgie, die von einer veränderten Funktion des Theaters ausgeht und in Folge dessen eine neue ästhetische Form und neue künstlerische Inhalte bedingt. Krieg und Revolution hätten, so begründet Piscator, diese Veränderung selbst vorgenommen.
Der bürgerliche Individualismus und mit ihm die Wertigkeit des Bürgertums wurden aus der Sicht des Regisseurs nicht nur in ihren Grundfesten erschüttert, sondern „im Krieg begraben“. Der Mensch auf der Bühne sei nun untrennbar mit den großen politischen und ökonomischen Faktoren seiner Zeit verbunden. Dies erklärt auch die veränderte Rolle des Schauspielers, der in seinem Spiel nicht mehr als Subjekt agiert und psychologisiert, sondern als Träger der dargestellten historischen und gesellschaftlichen Vorgänge auftritt. Piscator bezeichnet seinen dramaturgischen Ansatz als „soziologische Dramaturgie“.

Neue theatrale Mittel

Die konkrete Veranschaulichung der Vorgänge, der Szenerie und auch des Kostüms bestimmen die rationale und zugleich emotionale Darstellungsweise. Der Zuschauer soll gedanklich und gefühlsmäßig aktiviert werden und sich im Bühnengeschehen wie auch im historischen Kontext wiederfinden. Diese Wirkungsabsicht bedingt neue theatrale Mittel, die jene Fokusverschiebung vom Privaten zum Allgemeinen, vom Zufälligen zum Kausalen, vom Dekorativen zum Konstruktiven und vom Phantastischen zur Wirklichkeit zu fassen und umzusetzen versuchen. Das Dokument ersetzt die Fabel. Die Steigerung vom Szenischen in das Historische kann allerdings die vorhandene Dramatik nach diesen Grundsätzen nicht leisten, so dass Piscator technische Mittel wie die Lichtprojektion, den Film und den modernen Bühnenapparat als Dramaturgie- und Inhaltsstütze bemüht. Der Mangel an entsprechender Dramatik und Architektonik – verfügbar war meist nur die Guckkastenbühne des Hoftheaters – führt Piscator über das Experiment zu einer neuartigen Bühnengestaltung und Dramaturgie. Der Avantgardist prägt damit nicht nur das moderne Regietheater, sondern entwickelt auch die bühnentechnischen Grundlagen für alles bis heute Folgende.
Erwin Piscator ist am 17. Dezember vor 118 Jahren geboren.

Foto: Sasha Stone, Erwin Piscator Entering the Nollendorf Theater, Berlin 1929 (Quelle)