Sonntag, 20. Juni 2010

Gespräch mit Prof. Dr. Joachim Fiebach und Prof. Dr. Frank Hörnigk (von Antje Paul, Schnitt: Manuel Paul)












Am 26. März 2010 fand unser Gespräch mit dem Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Joachim Fiebach und dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Frank Hörnigk im Heiner Müller Archiv in Berlin-Mitte statt.
Ausgangspunkt war das Werk des Dramatikers Heiner Müller, aus dessen reichem Material unser Denkansatz und Projektname "Inseln der Unordnung" stammt.
Die beiden Professoren hatten viele Berührungspunkte: Beide lehrten an der Humboldt Universität Berlin, waren Teil der DDR Geschichte wie auch Heiner Müller und mit ihm und seinem Werk durch Freundschaft und Arbeit verbunden. Frank Hörnigk wurde der Herausgeber Müllers Werke im Suhrkamp Verlag. Joachim Fiebach publizierte im Nachwendejahr 1990 unter dem Titel "Inseln der Unordnung" fünf Versuche zu Müllers Theatertexten.
Inmitten Müllers Bibliothek und Teilen seines früheren Interieurs bewegten wir uns mit den Müller-Experten drei Stunden diskursiv entlang Müllers Gedanken zwischen Realität und Utopie von den Anfängen der DDR bis in unsere Gegenwart.
Ein Zusammenschnitt des Gesprächs in vier Teilen soll einen Einblick geben und einzelne Punkte inhaltlich strukturieren.

(Am 30. Januar 2016 verstarb Prof. Dr. Frank Hörnigk.) 

Das Prinzip „Inseln der Unordnung“ und Heiner Müller



Das Denkprinzip „Inseln der Unordnung“ verortet Frank Hörnigk als: „grundsätzlichen Denkansatz der Moderne der Destruktion des Gegebenen“. In Müllers Texten vollziehe sich diese Destruktion als „subversives Spiel auf dem Theater“ gegen Ordnungsprinzipien und Status Quo. Müllers Texte kennzeichnen den Versuch, Widersprüche in der Geschichte sichtbar zu machen. Seine Ästhetik misst sich nicht an postmodernen Diskursen, sondern an wirklichen Verhältnissen, wie Hörnigk festhält. Diese Verhältnisse finden sich in der Wirklichkeit des realexistierenden Sozialismus der DDR. Joachim Fiebach erklärt, dass hier die Idee von Chancengleichheit auf einen „paranoiden Ordnungsstaat“ trifft, in deren Spannungsfeld sich Müllers Texte u.a. bewegen. Was bleibt, sind Lücken im System.
Ein universeller Denkansatz, der sich ebenso an Symptome der Gegenwart anlegen lässt.

Arbeit ohne Hoffnung: Utopie in der DDR und bei Heiner Müller



Die Idee des Sozialismus mit Chancengleichheit als kleinsten gemeinsamen Nenner wurde vom DDR-Staat propagiert, aber an wichtigen Punkten in der Realität nicht verwirklicht, erklärt Fiebach. Utopie wurde begrifflich zu Perspektive und Plan. „Die selbstillusorische Erfahrung einer Gesellschaft, die auf den Traum hoffte“, so Hörnigk, traf auf die „Unerträglichkeit“ einer Realität, in der die Zeit des Subjekts der Zeit der Geschichte gegenüberstand. Müllers Satz aus „Der Bau“ (1963/64): „Ich bin der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune“, mache deutlich, dass jenes propagierte Versprechen nicht morgen einzulösen sei. Doch gerade in der Kraft, diese Strecke auszuhalten und „ohne Hoffnung zu arbeiten“, läge das utopische Potential, was auch in Müllers Texten verwandelt wird. Utopie bzw. gerade ihre Abwesenheit hat dort „die Dimension einer ästhetischen Metapher, an der ein politscher Diskurs festgemacht werden kann, stellt Hörnigk heraus. Auch heute noch.

Utopie und Gegenwart: Anatomie

Spätestens mit dem Wegfall der sozialistischen Idee 1989 ist die Perspektive einer Alternative und damit das Prinzip Utopie verschwunden. Die Theorie der Posthistoire spricht an dieser Stelle vom Ende der Geschichte. Die Zeit existiere nicht mehr in der Dimension von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kollabiere in ihren beiden letzten Teilen zu einer kompakten Gegenwart. Die Vergangenheit verschwinde ganz. Fiebach beobachtet, dass eine Folge die allgemeine Verflachung der Gegenwart ist. Neue technologische Prozesse und die audio-visuelle Medienmacht trügen zu dieser Tendenz mit subtilen Mitteln bei. Es sei Anatomie zu leisten, die Widersprüche aufdeckt und Gegenwart seziert.

Utopie und Gegenwart: Neue Widersprüche


Konsum als eine in die Gegenwart käuflich reduzierte Vorstellung von Utopie und allgemeine Inhaltslosigkeit fordern eine „Kunst, in der es noch um irgendetwas geht“, heraus. Heiner Müller machte solche Kunst.

Die Welt in 100 Jahren – Zukunftsvisionen und Gegenwart vom vernetzten Leben (von Antje Böhme)



"Das vergangene Jahrhundert hat mit Rekorden von Zeitgewinn geprahlt, seine Schicksale durch Ortlosigkeit erfahren. Die Bilder, von denen das 20. Jahrhundert seit seinem Anfang gleicherweise begeistert, hingerissen und schikaniert worden ist, waren Zukunftsvisionen. Die Beschleunigung und technische Perfektionierung der Verkehrsverhältnisse auf dem gesamten Globus haben das Denken und die Empfindungswelt radikal auf die Zukunft hin orientiert." (Topos Raum, 2004, S. 9)
Die technologischen Errungenschaften treiben die globale Vernetzung, von der schon in Zukunftsvisionen der Vergangenheit in verschiedenen Versionen die Rede ist, stetig voran und verändern damit maßgeblich die Zukunft von Politik und Gesellschaft.